„Alles Menschliche ist von kurzer Dauer und wird vergehen“, sagte Seneca.
Diesen Gedanken allzeit vor Augen zu haben, kann helfen die Traurigkeit über Vergängliches zu lindern und Verluste besser zu verkraften.
Alte Stoiker, wie Marc Aurel rieten uns nicht zum Leben im „Hier und Jetzt“, sie empfahlen, sich die Vergänglichkeit der uns umgebenden Dinge bewusst zu machen: „Dinge, die wir lieben, sind wie die Blätter eines Baumes, sie können jeden Augenblick herabfallen, wenn der Wind aufkommt.“
Ich lebe sehr dynamisch. Die Energie dazu gewinne ich aus der Bewegung in der Natur, aus der Musik und in der Beschäftigung mit japanischen und buddhistischen Konzepten. Sie erinnern mich daran, dass der gegenwärtige Moment, jetzt, da ich diese Zeilen hier schreibe, der einzige Moment ist, in dem ich lebendig bin.
In unserem Kulturkreis werden wir in der Regel zukunftsorientiert erzogen, wir lernen, dass man sich immer Gedanken um die Weiterentwicklung, das Fortkommen, die Selbstopitimierung machen soll. Jetzt, im fortgeschrittenen Alter kann ich auf vieles Bedeutungsvolles und Bedeutungsloses zurückblicken. Ich habe erledigt, entwickelt, vorangebracht, und, und, und …?
„Ichi-goichi-e“ – Dieser Augenblick existiert nur jetzt und wird sich niemals wiederholen, denken nicht nur Japaner. Begegnungen mit Menschen, zauberhafte Eindrücke, kleine Momente – genieße sie in aller Einmaligkeit mit allen Sinnen. Kann heißen, lenk dich nicht ab, lass das Handy in der Tasche, du brauchst jetzt kein Bild und du musst auch nichts googeln oder verschicken. Ebenso mögen Gedanken aus der Vergangenheit eintreffen und in die Zukunft schweifen, sie dürfen gerne kommen und gehen. Sie haben in diesem Augenblick keine Bedeutung – nur dein Genuss und deine Sinne.
Ja, es fällt nicht leicht, sich zurückzulehnen und nicht mehr den fleißigen inneren Antreibern, wie dem herrschsüchtigen Perfektionisten, seinem Kumpanen, dem Allenmachsrecht, und den vielen kleinen Husch-Huschs weiterhin zu gehorchen. Aber ich bin dabei ihnen klar zu machen, dass sie gute Arbeit geleistet, meine Existenz und gewisse Erfolge gesichert haben, und sich jetzt wie ich der Vergänglichkeit widmen und mit mir der Unvollkommenheit frönen dürfen. Die Magie der Unvollkommenheit!
„Wabi-sabi“ lehrt uns die Schönheit nicht in der Perfektion zu suchen, sondern im Unvollkommenen, Unvollständigen. Wir könnten bei uns selbst anfangen: Wir haben faltige Gesichter, gelebte Körper, Blessuren und Spuren, die das Leben in und auf uns hinterlassen hat. Wir sind der Inbegriff der Vergänglichkeit, demzufolge wächst mit jedem Lebensjahr in uns die Schönheit der Unvollkommenheit.
In den Wäldern drüben,
tief unter der Last des Schnees,
ist letzte Nacht
ein Pflaumenzweig erblüht.
Also: Entlasten wir unsere Antreiber mit ihrer Dauerkontrolle, schicken wir sie in die wohlverdiente Pension, tanzen mit der Zeit und geben wir uns schamlos der Vergänglichkeit und Unvollkommenheit hin.
Viel Vergnügen.